Die Geschichte von den schwarzen Puzzleteilen

Während meiner ganzen Kindheit hatten meine Eltern auf einem eigens dafür angeschafften Tisch im Wohnzimmer riesige Puzzlespiele liegen. Mein Vater, der das Puzzeln eingeführt hatte, ließ jedes Mal vor Beginn eines neuen Spiels den Deckel der Spielschachtel verschwinden. Sinn der Sache war, dass wir die Teilchen zusammensetzen sollten, ohne das Bild zu kennen. Familienmitglieder und Freunde, die zu Besuch kamen, beschäftigten sich mit dem Puzzle, manchmal nur wenige Minuten lang, bis nach einigen Wochen Aberhunderte von Teilchen ihren Platz gefunden hatten.

Im Laufe der Jahre legten wir Dutzende von solchen Puzzles. Ich entwickelte dabei mit der Zeit eine große Geschicklichkeit und war immer besonders stolz, wenn ich als Erste sah, wohin ein Puzzleteilchen gehörte oder wie zwei Puzzlefragmente zusammenpassten. Ganz besonders liebte ich den Augenblick, in dem sich die erste Andeutung eines Motivs herauszuschälen begann und ich sehen konnte, was die ganze Zeit verborgen gewesen war. Den Puzzletisch hatte mein Vater meiner Mutter zum Geburtstag geschenkt. Ich sehe meinen Vater noch vor mir, wie er den Tisch aufstellte und ausgelassen die Teilchen des ersten Puzzlespiels aus der Schachtel auf den Tisch kippte. Ich war damals drei oder vier Jahre alt und verstand nicht, worüber meine Mutter sich so freute. Meine Eltern hatten mir das Spiel nicht erklärt, vermutlich, weil sie dachten, ich sei noch zu klein, um mitzumachen. Aber ich wollte trotzdem mitspielen.

Als ich eines Morgens allein im Wohnzimmer war, kletterte ich auf einen Stuhl und breitete die zahllosen Teilchen aus, die auf dem Tisch lagen. Sie waren ziemlich klein, einige schön farbig, andere eher dunkel. Die dunklen sahen aus wie Spinnen oder Wanzen; ich fand sie hässlich und ein bisschen Furcht einflößend. Ihr Anblick war mir unangenehm. Also suchte ich einige davon zusammen, kletterte wieder vom Stuhl und versteckte sie unter einem Sofakissen. Einige Wochen lang kletterte ich jedes Mal, wenn ich allein im Zimmer war, auf den Stuhl und wiederholte diese Prozedur.

Meine Eltern brauchten deshalb für dieses erste Puzzle sehr viel Zeit. Frustriert zählte meine Mutter schließlich die Teilchen und stellte fest, dass über hundert fehlten. Sie fragte mich, ob ich sie gesehen hätte. Ich gestand ihr, was ich mit den Teilchen, die mir nicht gefielen, gemacht hatte, und sie räumte mein Versteck und vollendete das Puzzle. Ich weiß noch, dass ich ihr dabei zuschaute. Als die Puzzleteilchen eines nach dem anderen ihren Platz fanden und langsam ein Bild entstand, staunte ich Bauklötze. Dass aus dem Puzzle ein Bild werden sollte, hatte ich nicht geahnt. Es war ein wunderbar friedliches Bild, das einen verlassenen Strand zeigte. Ohne die von mir versteckten Teilchen hatte das Spiel keinen Sinn ergeben.   Vielleicht können wir nur dann gewinnen, wenn wir uns dem Spiel bedingungslos hingeben. Für das Spiel des Lebens brauchen wir alle Teilchen. Solange ich mein Leben nur in Teilen akzeptierte und den Rest ablehnte oder ignorierte, konnte ich es auch nur bruchstückhaft wahrnehmen entweder vom Rausch des Erfolges mitgerissen oder vom Schmerz über einen Verlust oder einen Misserfolg, den ich mit allen Mitteln vertuschen wollte, gepeinigt. Aber ebenso wie die dunklen Teilchen des Puzzles haben sich diese eher traurigen Ereignisse — so schmerzlich sie waren — als Teil von einem größeren Ganzen erwiesen. Was ich bei flüchtiger Betrachtung meinte verstecken zu müssen, sollte ich schließlich bis zum letzten Teilchen als Geschenk entgegennehmen. Wir setzen bei allem, was wir tun, die Teilchen zusammen, ohne das Bild zu kennen. Ich bin mit Menschen zusammen gewesen, die in Momenten großen Kummers ganz unerwartet den Sinnzusammenhang ihrer Lebensfragmente begriffen. Im Laufe der Zeit erwies sich dieser Sinn dann als dauerhaftes und vertrauenswürdiges, ja sogar als erneuerndes Potenzial. Diese Art von Stärke werden diejenigen, die ihren Schmerz ablehnen, nie erlangen.

Im Laufe der Jahre habe ich erkannt, wie viel Kraft es einem verleiht, das Leben bedingungslos anzunehmen. Ich staune über mich selbst, wie offen ich für alles, was das Leben bietet, geworden bin …..(…).

von Naomi Renen